Die gesetzliche Rente:

Demontage eines funktionierenden und anpassungsfähigen Systems

Die Riester-Reform (2003/2004) hatte nur diesen einen Zweck: die Arbeitge­ber von ihrem hälftigen Anteil an weiteren Rentenbeiträgen zu entlasten. Das war's auch schon — alle anderen Rechtfertigungen beruhen auf Mythen.

Schon Grundschüler konnten erkennen, dass ein so halbiertes gesetzliches Bei­tragsaufkommen in Zukunft nicht mehr zu den gewohnt hohen Renten reichen kann. Durch ein zusätzliches kapitalgedecktes System (wie „Riester”) wird der Aufwand pro Rente nicht geringer, sondern höher. Weshalb also erwartet wird, mit „Riester” würde etwas besser, bleibt schleierhaft. Aber die damalige Rot-Grün-Koalition, im Prinzip gemeinsam mit CDU/CSU und FDP, stimmten zu.

„Volkswirtschaftslehre … ist das Verwechseln von Bestands- und Flussgrößen …”
Michał Kalecki (ironisch), „Nobelpreis”-Nominierter 1970

Um diesen schweren Eingriff in das Rentensystem (und bei der SPD den Bruch des Wahlversprechens von 1998) zu rechtfertigen, wurde das Narrativ von der „An­passung an die zu erwartende Alterung der Bevölkerung” verkündet. Aber Volkswirte wissen: im Voraus funktioniert solche Anpassung garnicht (Macken­roth-Theorem: „… aller Sozialaufwand [muss] immer aus dem Volksein­kommen der laufenden Periode gedeckt werden. … [Es] hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der Sozialaufwand fließen könnte”). Volkswirtschaftlich ähneln sich Kapitalansammlungsverfahren und Umlageverfahren zwar, aber praktisch ist Letzteres wegen des geringeren Verwaltungsaufwands im Vorteil. Statt „vorauseilender Anpassung” an eine zukünftige Altersstruktur hat die Re­form tatsächlich über mehrjährige stufenweise Absenkungen („Riester-Treppe”) nur das Rentenniveau gesenkt, ohne Beitragszahler insgesamt zu entlasten.

Die Deutsche Renten-Versicherung über das Rentenniveau: „… Absinken des Rentenniveaus heißt nicht, dass die Renten sinken. … Sie werden auch künftig steigen, aber nicht so stark wie die Einkommen.”
Wirtschaftswachstum und Inflation iassen meist schon die Renten nicht absolut sinken. Anderenfalls garantiert die eingebaute Schutzklausel, dass das Rentenniveau erhalten bleibt. Die Differenz wird aber später durch eine Extrasenkung nachgeholt. Haben die Versicherten den Wertverlust überhaupt bemerkt?

So erhalten Rentner bei uns im Durchschnitt ca. 45% des letzten Nettolohns — im Unterschied etwa zu Österreich mit ähnlicher Rentner- und Betragszahler-Struktur, aber Auszahlungen in Höhe von ca. 81% des letzten Nettolohns. Es ist nur logisch, dass man bei Reduzierung der Einzahlungen (durch Wegfall der Arbeitgeber-Beiträge bei „Riester”) auch nur reduzierte Auszahlungen erhält.

Obwohl seit 1957 das Umlageverfahren gilt, glauben immer noch Viele, die für die Rente eingezahlten Beiträge würden gesammelt und ab Rentenbeginn wie­der ausgezahlt. Das Entgeltpunkte-Verfahren verleitet zu dieser Wahrneh­mung. Tatsache ist aber: Es gibt keine solche Rentenkasse. Rentenansprüche sind keine Bestandsgrößen — Rentenbeiträge und -auszahlungen sind Flussgrößen.

Es blieb Aufgabe der Rentenpolitik, laufende Beiträge und auszuzahlende Ren­ten in Einklang zu bringen. Um willkürlicher Politik vorzubeugen und eine sach­gerechte Vorausschau zu ermöglichen, wurde mit der großen Rentenreform von 1957 und dem Start des vollen Umlageverfahrens die Rentenanpassungsfor­mel zur Berechnung eines fortgeschriebenen, abstrakten aktuellen Renten­werts ein­geführt. Sie wurde nacheinander um einige Komponenten erweitert:

Relevante Entwicklung der Rentenanpassungsformel
Gesamt-Rechnung … Lohnkomponente „Riester”-Faktor Nachhaltigkeitsfaktor
Seit 1.7.1957 Seit 1.7.1992 Seit 1.7. 2003 Seit 1.7. 2005
Neuer aktu­eller Ren­tenwert  =  Renten­wert Vorjahr  ✖  Prozentualer Verdienst-An­stieg im vor­letzten Jahr  ✖ ( 100  -  Beitragssatz-Änderung im vor­letzten Jahr  -  Altersvorsorge­anteil-Ände­rung im vor­letzten Jahr ) ✖ (  (1 - Anzahl der Äquiv.-Rentner  /  Anzahl der Äqu.-Beitrags­zahler ) ✖  Gewich­tung m. α= z.Zt. 0,25 + 1)

Neben dem „Riester”-Faktor wurde auch der Nachhaltigkeitsfaktor zunächst als „Rentensenkungsfaktor” bezeichnet — zu Unrecht, wie sich herausstellte. Genau dieser Faktor war die fehlende Komponente, welche Änderungen in Demografie und Arbeitsmarkt auf Renten-Senkung oder -Steigerung abbildet.

Mathematisch weniger Geübte mag die Sequenz „((1 - … ) x α + 1)” mit den „Äquivalenz”-Angaben verwirren:
Sie bewirkt in etwa, dass ein Nachhaltigkeitsfaktor größer als 1 die Renten erhöht und sie umgekehrt bei einem Wert kleiner als 1 verringert (siehe untere Tabelle). Derzeit wird der Faktor mit dem Parameter α von 0,25 nur zu einem Viertel berücksichtigt. Vielleicht könnte eine andere Gewichtung für α eine gerechtere Anpassung bewirken.

Der nur Rentenniveau-senkende Riesterfaktor und die unzureichende kapitalge­deckte Rente waren hier vollkommen kontraproduktiv. Lohnkomponente und Nachhaltigkeitsfaktor allein hätten für ein flexibles System ausgereicht: Der Nachhaltigkeitsfaktor hat bis heute nicht Renten-senkend, sondern in der Summe — bei einigen Schwankungen — leicht Renten-erhöhend gewirkt:

Entwicklung des Nachhaltigkeitsfaktors der Rentenanpassung
Jahr:  2005   2006   2007   2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014 
Änderung: 0,9939 1* 1,0019 1,0022 1,0031 0,9949 0,9954 1,0209 0,9928 0,9981
Jahr:  2015   2016   2017   2018   2019   2020   2021   2022   2023 
Änderung: 1,0001 1,0018 0,9986 1,0029 1,0064 1,0017 0,9908 1,0076 0,9990
*) 2006 wurde die Rentenanpassung ausgesetzt, die Vorjahrsrente beibehalten, da die Berechnungsdaten noch nicht vorlagen.
Siehe http://portal-sozialpolitik.de/index.php?page=rentenanpassung-2023

  Die erwartete Überalterung kam also noch garnicht im Rentensystem an!  

Das könnte an einer erhöhten Erwerbsquote (z.B. zunehmende Frauen-Be­schäftigung) liegen, wird sich aber wohl im Laufe der 2020er Jahre doch noch ändern.

Die „Riester”-Gesetze waren mit einem Rahmengesetz für eine sogen. „Riester-Treppe” ausgestattet, in dem für jedes Jahr das angestrebte Niveau angegeben war. Es war wohl für weitere Absenkungs­schritte vorbereitet. Ihre Vorzeichen waren nicht festgeschrieben. Man hätte es also nutzen können, um das Rentenniveau in Schritten wieder anzuheben — bei gleichzeitigem Ende der Riesterförderung.

Diese Chance ist wohl inzwischen vertan. Stattdessen klammern wir uns nun an sogenannte „Haltelinien” als angestrebte Mindest-Rentenniveaus, deren mathe­matisch überdefinierter Mechanismus sich bald nicht mehr erfüllen lässt.

Im Übrigen wird der Einfluss der Demografie über-, der von Wirtschaftswachs­tum und Produktivitätsfortschritt unterschätzt. Statistiker Prof. Gerd Bosbach: „Ein Bauer versorgt heute zehnmal so viele Menschen wie vor hundert Jahren.” Die demografische „Überalterung” gibt's „seit mehr als hundert Jahren”. Doch wird „… der Kuchen … größer … kann jeder ein größeres Stück abbekommen.”

Oskar Fuhlrott, August/September 2023